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Kinder und Jugendliche in Armut: Es braucht ein soziales Existenzminimum auf dem Niveau der Ergänzungsleistungen.

Die Studie «Die materielle Situation von Kindern und Jugendlichen in der Sozialhilfe» (Link zur Studie: «Situation_Kinder_und_Jugendlichen_in Sozialhilfe»), die Ende September vorgestellt worden ist, hat den Handlungsbedarf in Bezug auf armutsbetroffene Kinder und Jugendliche überaus deutlich gemacht. Die Studie ist vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS AG verfasst und von der Schweizerischen Konferenz der Sozialdirektor:innen SODK, der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS, dem Schweizerischen Städteverband SSV, der Städteinitiative Sozialpolitik, der Stadt Zürich und der Eidgenössischen Migrationskommission EKM in Auftrag gegeben worden. Es sind gewichtige Organisationen, die mehr wissen wollten zur Armut von Kindern und Jugendlichen. Mit der SODK ist dasjenige Gremium federführend, dessen Mitglieder die Sozialhilfe in ihren Kantonen prägen, und mit der SKOS diejenige Organisation, die mit ihren Richtlinien die Eckwerte definiert, an denen sich die Sozialhilfe in den Kantonen und Gemeinden orientieren sollte. Die Auftraggeber:innen der BASS-Studie haben signalisiert, dass sie die Ergebnisse und Erkenntnisse ernst nehmen. Das ist erfreulich, wie auch die Tatsache, dass die SODK bereits drei Massnahmen  formuliert hat. Als Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht finden wir aber, dass bereits heute ganz konkrete Handlungsoptionen auf dem Tisch liegen, mit denen die Situation rasch und nachhaltig verbessert werden könnte. Unsere Empfehlungen und Forderungen finden Sie im Abschnitt «Es ist mehr nötig».

Studie zeigt gravierende Defizite und dringenden Handlungsbedarf auf.
Die materielle Armut von Kindern und Jugendlichen, das macht die Studie einmal mehr sichtbar, stellt ein beträchtliches Risiko für die kindliche Entwicklung dar. Die negativen Folgen der Armut betreffen sämtliche Lebensbereiche der Kinder, wie verringerte Bildungschancen, schlechtere Gesundheit, verringerte soziale Teilhabe, ungünstige und beengte Wohnverhältnisse und eingeschränkte Möglichkeiten für familiäre Aktivitäten. Neben individuellem Leid verursacht Kinderarmut aber auch hohe gesellschaftliche Folgekosten. Kinder und Jugendliche weisen die mit Abstand höchste Sozialhilfequote aller Altersklassen auf. Betrug im Jahr 2022 die Sozialhilfequote insgesamt 2.9 Prozent, so belief sie sich bei Minderjährigen auf 4.8 Prozent. In absoluten Zahlen entspricht dies 76`000 Kindern, die von der Sozialhilfe leben. Hinzu kommen etwas mehr als 35`000 Kinder, die von der Asylfürsorge unterstützt werden. Die Studie legt den Finger insbesondere auf folgenden Missstand:
Die aktuellen Sozialhilfeleistungen für Kinder sind teilweise unzureichend, um ihnen einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten und ihre spezifischen Bedürfnisse zu decken. Erstens ist der Grundbedarf bei Familienhaushalten zu tief bemessen, um eine angemessene Existenzsicherung zu gewährleisten. Zweitens ist die Praxis bei der Ausrichtung von fördernden, situationsbedingten Leistungen (SIL), die unter anderem zur Deckung spezifischer Bedürfnisse von Kindern ausgerichtet werden, ungenügend.
Dass die Sozialhilfe einem Flickenteppich gleicht, haben wir schon mehrmals festgehalten. Die Studie «Sozialhilfevollzug in fünf Kantonen der Schweiz (HarmSoz)» der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW (Link zur Studie «HarmSoz») hat diesen Flickenteppich in mehreren Bereichen nachgewiesen. Überaus deutlich, so weist die Studie der BASS AG nach, tritt er bei der Ausrichtung von situationsbedingten Leistungen für Kinder und Jugendliche zu Tage. So hält die Studie fest, dass die Praxis bei der Ausrichtung von situationsbedingten Leistungen «in höchstem Masse uneinheitlich ist und stark von Gemeinde zu Gemeinde variiert.» Und weiter: «Die grosse Heterogenität bei der SIL-Sprechung von Kindern übersteigt bei den befragten Fachpersonen dabei oftmals den Rahmen des Ermessens und erscheint willkürlich.»

Das hat die Studie bereits ausgelöst:
Die SODK hat der SKOS bereits drei Prüfungsaufträge erteilt:
Erstens soll die Äquivalenzskala überprüft und angepasst werden. Ausgehend von einem Einpersonenhaushalt wird mit der Äquivalenzskala der Grundbedarf (GBL) für Mehrpersonenhaushalte, namentlich für Familien mit Kindern errechnet. Der Anteil pro Person nimmt mit wachsender Kinderanzahl ab. Die Äquivalenzskala sei veraltet und äusserst defensiv zu Ungunsten der Sozialhilfebeziehenden ausgelegt, hält die BASS-Studie fest.
Zweitens muss die SKOS Altersabstufungen beim GBL prüfen. Kleine Kinder verursachen in der Regel weniger Kosten als halbwüchsige Jugendliche. Das aber wird in der Sozialhilfe bislang nicht berücksichtigt.
Drittens soll die Ausrichtung einer Pauschale für Situationsbedingte Leistungen für bestimmte Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen geprüft werden. Der Kanton Genf kennt diese Praxis bereits und verzeichnet damit Erfolg.

Es ist deutlich mehr nötig!
Das alles ist gut, aber es ist mehr nötig, um die Situation von armutsbetroffenen Kindern und Jugendlichen nachhaltig und dauerhaft zu verbessern. Und es wäre vieles möglich, wenn nur der politische Wille dazu da wäre. So hat Prof. Dr. iur. Eva Maria Belser bereits 2015 im Bericht «Ein Rahmengesetz für die Sozialhilfe» zuhanden des damaligen Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) festgehalten: «Viele der aktuellen Probleme könnten bereits durch eine verbesserte Durchsetzung der bestehenden Normen und einen stärkeren Rechtsschutz für Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger entschärft, wenn nicht ganz gelöst werden.» Was passieren muss, hält die BASS-Studie ebenfalls unmissverständlich fest: «Kinder haben grundsätzlich Anspruch auf ein ungekürztes soziales Existenzminimum.» Aus Sicht der UFS kann dies nur heissen, dass für Kinder ein soziales Existenzminimum gelten muss, dass sich an demjenigen von Ergänzungsleistungen orientiert. Heute treffen wir in der Schweiz auf einen eigentlichen Wildwuchs an Existenzminima: Dasjenige, das den Berechnungen der Ergänzungsleistungen EL zu Grunde gelegt wird, das betreibungsrechtliche Existenzminimum BEX, dasjenige im Bereich der Sozialhilfe und dasjenige in der Asylfürsorge. Die heutigen finanziellen Unterschiede sind je nach Existenzminimum enorm. Ein Paar mit drei Kindern, das von Sozialhilfe abhängig ist, erhält einen monatlichen Grundbedarf von rund CHF 2`500. während die Ergänzungsleistungen nahezu CHF 5`000 gewähren. Die SODK hat diese Problematik erkannt und zusammen mit der Städteinitiative Sozialpolitik zum Ausdruck gebracht, dass es entsprechende Anpassungen braucht, auch wenn dies höhere Kosten in der Sozialhilfe mit sich bringt. Mit der Definition eines einheitlichen Existenzminimus auf Höhe EL wäre dieses Ziel erreicht.
Zweitens gilt es der herrschenden Willkür bei der Sprechung von Situationsbedingten Leistungen SIL einen Riegel zu schieben. Der Rechtsschutz von Armutsbetroffenen – auch von armutsbetroffenen Kindern und Jugendlichen – ist deutlich auszubauen. Zu diesem Ergebnis kommt nicht zuletzt die anfangs 2021 publizierte, vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in Auftrag gegebene Studie «Rechtsberatung und Rechtsschutz von Armutsbetroffenen in der Sozialhilfe». Die Untersuchung deckt «gravierende Lücken» beim Rechtsschutz auf und kommt zum Schluss, dass die Nachfrage nach Rechtsberatung das Angebot deutlich übersteigt. Als Massnahme für die Behebung dieser Lücken empfiehlt die Studie insbesondere die Stärkung und staatliche Finanzierung von unabhängigen Rechtsberatungsstellen.

Bundesverfassung und Völkerrecht sind ernstzunehmen!
Der Fokus, der auf die Situation von Kindern in Armut zu richten ist, ist nicht «nice to have», sondern eine Verpflichtung. Das hält auch die BASS-Studie fest: «Das soziale Existenzminimum für Kinder ist verfassungs- und völkerrechtlich geschützt. Die Bundesverfassung und internationale Abkommen wie die UNO-Kinderrechtskonvention anerkennen die besonderen Schutz- und Unterstützungsbedürfnisse von Kindern. Diese Normen geben qualitative Untergrenzen und Massstäbe vor, um die Angemessenheit von Sozialhilfeleistungen für Kinder zu beurteilen.» Rasches Handeln ist angezeigt. Dieses Handeln muss zu einem sozialen Existenzminimum für Kinder und Jugendliche führen, das sich an den Ergänzungsleistungen bemisst und an einer raschen Stärkung des Rechtsschutzes für Armutsbetroffene durch die Finanzierung von unabhängigen und kostenlosen Rechtsberatungsstellen mit staatlichen Mitteln.

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