Jahrzehntelang sass Irina B.* (50) als KV-Angestellte hinter dem Schreibtisch, bis ihr Job Sparmassnahmen zum Opfer fiel. 2015 meldet sich die Zürcherin beim Arbeitsamt (RAV), ein gutes Jahr später rutscht sie bereits in die Sozialhilfe. Bedingung: Irina B. sucht sich ein sogenanntes «Beschäftigungsprogramm», also einen von der Gemeinde subventionierten Job. «Dann durfte ich im Spital im Büro arbeiten, was mir sehr guttat und auch gefiel», sagt sie. Mit einer neuen Sozialhilfebetreuerin wird der Ton ihr gegenüber aber immer schärfer.
Die Sozialhilfe wird ihr gestrichen. «Grundlos», wie ihr Anwalt betont. Als Folge verliert Irina B. den Spitaljob, «und damit ihre Aussichten auf berufliche Integration», so der Anwalt. Mittels Rekurs musste die Gemeinde gezwungen werden, ihr die Sozialhilfe wieder auszurichten. Doch die Gemeinde lässt nicht locker. Ein Sozialhilfedetektiv wird auf sie angesetzt. Er soll beweisen, dass ihr WG-Partner in Wahrheit der Lebenspartner sei. Sie lebe im Konkubinat, beschliesst der Schnüffler, nachdem er die beiden beim gemeinsamen Einkauf im Baumarkt beobachtete. Als Folge kürzt die Gemeinde Irina B. den Grundbetrag – für Paare liegt er tiefer.
Irina B. steht für Zehntausende Sozialhilfebezüger im ganzen Land: Sie werden immer härter angepackt. 2016 wurde der Grundbetrag gekürzt, seit 2017 ist schon die nächste Revision in Kraft.
«Dem politischen Druck gebeugt»
Leidensgeschichten wie jene von Irina B. sind für Pierre Heusser alltäglich. Als Anwalt kämpft er gegen ungerechtfertigte Kürzungen der Sozialhilfe. «Natürlich verhungert man in der Schweiz nicht», stellt er klar. Doch Leben bedeute mehr als nacktes Überleben. Er klagt an: Die Höhe der Zuwendungen für die Sozialhilfeempfänger entbehren jeglicher Faktengrundlage. «Aber heute werden die Beiträge mehr denn je politisch festgelegt.»
Verantwortlich für diese Richtlinien ist die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos), ein privater Verein. Brisant: Felix Wolffers, Co-Präsident der Skos, bestätigt, dass die Sozialhilfebeiträge heute nicht dem errechneten Existenzminimum des Bundesamts für Statistik entsprechen. «Der politische und mediale Druck hat dazu geführt, dass Leistungen gekürzt wurden», erklärt er und gibt zu: Die Sozialhilfe sei sehr knapp bemessen.
Die Sozialschraube ist angezogen. Sozialhilfekritikern geht das aber viel zu wenig weit: Laut Barbara Steinemann, SVP-Nationalrätin und Mitglied der Regensdorfer Sozialbehörde, hätten die Gemeinden die verschärften Richtlinien sowieso nicht umgesetzt. «Die diesjährige Anpassung bleibt sozusagen im esoterischen Bereich ohne handfeste Auswirkung», schimpft sie. Dorn im Auge ist der SVP-Frau der «viel zu hohe» Grundbetrag. «Eine vierköpfige Familie bekommt heute etwa 5000 Franken steuerfrei», sagt sie. Je grösser die Familie, desto unfairer sei die Regelung gegenüber Normalverdienern. Laut Skos-Richtlinien erhält eine vierköpfige Familie 2110 Franken für das tägliche Leben.
Dieses Geld muss reichen für Essen, Kleider, Haushaltsgegenstände, ÖV-Billette, Handyrechnung, Körperpflege und anderes. Zusätzlich aber zahlt die Sozialbehörde die Wohnungsmiete, Krankenversicherung, die AHV und kommt für aussergewöhnliche Auslagen auf. Für Steinemann ein Skandal. Sie fordert, diese Beiträge radikal zu kürzen.
Skos-Präsident Wolffers kann ob solcher Forderungen nur den Kopf schütteln. Am meisten von Armut betroffen seien Kinder und Jugendliche. «Das ist eine sozialpolitische Schande und zeigt, dass das Problem nicht mit Leistungskürzungen gelöst werden kann.» Deshalb werde die Skos in naher Zukunft sicher keine Verschärfungen in ihren Richtlinien vornehmen. Kehrt vorerst Ruhe ein? Sozialanwalt Heusser ist pessimistisch. «Die nächste Verschärfungswelle kommt bestimmt.»
*Name der Redaktion bekannt
Publiziert am 07.01.2017 | Aktualisiert am 07.01.2017