Weniger Leistungen, härtere Auflagen, schärfere Kontrollen für Sozialhilfeempfänger Die Schrauben werden noch mehr angezogen

Sozialhilfeempfänger werden immer härter angepackt. So auch Irina, auf die ein Sozialdetektiv angesetzt wurde. Seit 1. Januar sind neue Verschärfungen in Kraft. Sozialhilfeexperten schlagen Alarm.

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Jahrzehntelang sass Irina B.* (50) als KV-Angestellte hinter dem Schreibtisch, bis ihr Job Sparmassnahmen zum Opfer fiel. 2015 meldet sich die Zürcherin beim Arbeitsamt (RAV), ein gutes Jahr später rutscht sie bereits in die Sozialhilfe. Bedingung: Irina B. sucht sich ein sogenanntes «Beschäftigungsprogramm», also einen von der Gemeinde subventionierten Job. «Dann durfte ich im Spital im Büro arbeiten, was mir sehr guttat und auch gefiel», sagt sie. Mit einer neuen Sozialhilfebetreuerin wird der Ton ihr gegenüber aber immer schärfer.

Die Sozialhilfe wird ihr gestrichen. «Grundlos», wie ihr Anwalt betont. Als Folge verliert Irina B. den Spitaljob, «und damit ihre Aussichten auf berufliche Integration», so der Anwalt. Mittels Rekurs musste die Gemeinde gezwungen werden, ihr die Sozialhilfe wieder auszurichten. Doch die Gemeinde lässt nicht locker. Ein Sozialhilfedetektiv wird auf sie angesetzt. Er soll beweisen, dass ihr WG-Partner in Wahrheit der Lebenspartner sei. Sie lebe im Konkubinat, beschliesst der Schnüffler, nachdem er die beiden beim gemeinsamen Einkauf im Baumarkt beobachtete. Als Folge kürzt die Gemeinde Irina B. den Grundbetrag – für Paare liegt er tiefer.

Irina B. steht für Zehntausende Sozialhilfebezüger im ganzen Land: Sie werden immer härter angepackt. 2016 wurde der Grundbetrag gekürzt, seit 2017 ist schon die nächste Revision in Kraft.

«Dem politischen Druck gebeugt»

Leidensgeschichten wie jene von Irina B. sind für Pierre Heusser alltäglich. Als Anwalt kämpft er gegen ungerechtfertigte Kürzungen der Sozialhilfe. «Natürlich verhungert man in der Schweiz nicht», stellt er klar. Doch Leben bedeute mehr als nacktes Überleben. Er klagt an: Die Höhe der Zuwendungen für die Sozialhilfeempfänger entbehren jeglicher Faktengrundlage. «Aber heute werden die Beiträge mehr denn je politisch festgelegt.»

Verantwortlich für diese Richtlinien ist die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos), ein privater Verein. Brisant: Felix Wolffers, Co-Präsident der Skos, bestätigt, dass die Sozialhilfebeiträge heute nicht dem errechneten Existenzminimum des Bundesamts für Statistik entsprechen. «Der politische und mediale Druck hat dazu geführt, dass Leistungen gekürzt wurden», erklärt er und gibt zu: Die Sozialhilfe sei sehr knapp bemessen.

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Die Sozialschraube ist angezogen. Sozialhilfekritikern geht das aber viel zu wenig weit: Laut Barbara Steinemann, SVP-Nationalrätin und Mitglied der Regensdorfer Sozialbehörde, hätten die Gemeinden die verschärften Richtlinien sowieso nicht umgesetzt. «Die diesjährige Anpassung bleibt sozusagen im esoterischen Bereich ohne handfeste Auswirkung», schimpft sie. Dorn im Auge ist der SVP-Frau der «viel zu hohe» Grundbetrag. «Eine vierköpfige Familie bekommt heute etwa 5000 Franken steuerfrei», sagt sie. Je grösser die Familie, desto unfairer sei die Regelung gegenüber Normalverdienern. Laut Skos-Richtlinien erhält eine vierköpfige Familie 2110 Franken für das tägliche Leben.

Dieses Geld muss reichen für Essen, Kleider, Haushaltsgegenstände, ÖV-Billette, Handyrechnung, Körperpflege und anderes. Zusätzlich aber zahlt die Sozialbehörde die Wohnungsmiete, Krankenversicherung, die AHV und kommt für aussergewöhnliche Auslagen auf. Für Steinemann ein Skandal. Sie fordert, diese Beiträge radikal zu kürzen.

Skos-Präsident Wolffers kann ob solcher Forderungen nur den Kopf schütteln. Am meisten von Armut betroffen seien Kinder und Jugendliche. «Das ist eine sozialpolitische Schande und zeigt, dass das Problem nicht mit Leistungskürzungen gelöst werden kann.» Deshalb werde die Skos in naher Zukunft sicher keine Verschärfungen in ihren Richtlinien vornehmen. Kehrt vorerst Ruhe ein? Sozialanwalt Heusser ist pessimistisch. «Die nächste Verschärfungswelle kommt bestimmt.»

*Name der Redaktion bekannt

Publiziert am 07.01.2017 | Aktualisiert am 07.01.2017
Das ändert sich 2017 in der Sozialhilfe

Alleinerziehende Mütter müssen früher wieder arbeiten

2017 ändert sich einiges in der Sozialhilfe, die «Situationsbedingten Leistungen» wurden überarbeitet. So gehört der Zahnarztbesuch nicht mehr zur obligatorischen Grundversorgung, sondern wird nur noch situativ bezahlt.

Neu kann eine alleinerziehende Mutter bereits im ersten Jahr nach der Geburt zur Arbeit gezwungen werden. Bisher war dies nach dem dritten Lebensjahr des Kindes der Fall. Neu müssen Gemeinden die maximale Wohnungsmiete anhand der effektiven Wohnlage errechnen. Damit können sie ­Sozialhilfebezüger nicht mehr zum Wegzug zwingen, indem sie die maximale Miete tiefer festlegen, als tatsächlich Wohnungen existieren.

Was hat sich zuvor geändert?

Schon 2016 wurde der Grundbetrag für Grossfamilien um 76 Franken pro Monat gekürzt. Junge unter 25 Jahren erhalten mit 789 Franken 20 Prozent weniger. Sanktionsmöglichkeiten wurden ausgebaut. Bis zu 30 Prozent des Grundbetrags können gestrichen werden.

Auch die minimale Integrationszulage wurde gestrichen. Diese konnte gewährt werden, wenn Bezüger gewillt sind, an Programmen teilzunehmen, ihre ­Situation dies aber nicht zulässt.

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144 Kommentare
  • Regula  Hiltebrand aus Au
    gestern, 10:06 Uhr
    @jürg frey. Ich habe als Ehefrau viel geleistet. Die Kindererziehung, kochen, haushalten, sogar EM unterstützt beim Aufbauen neuer Geschäfte. Wenn du aber dauern hintergangen wirst und nur ausgenützt wirst, da bin ich silber nicht selber schuld. Sicher gibt es da viele andere, dies ist mir schon klar, aber sicher nicht ich selber.
  • Robert  Mosimann 07.01.2017
    Es ist höchste Zeit die Schrauben anzuziehen. vor allem bei der gesunden Jungen. Diese müssen gezwungen werden auch einen anderen Job als den vorherigen bzw. gelernten Job anzunehmen.
  • Regula  Hiltebrand aus Au
    07.01.2017
    Beim Studieren sollte schon drauf geachtet werden, welche Berufe und Fähigkeiten überhaupt gefragt sind. Früher konnte man nämlich auch nicht sagen, das und jenes möchte ich nicht. Da war es eine Selbstverständlichkeit etwas anzunehmen, das auch gebraucht wird. Heute haben wir viel zu viel Wunschkonzert.
  • frank  onklay aus Basel
    07.01.2017
    Sozialhilfe zu knapp bemessen???
    Leider wird in der Aufstellung nicht erwähnt, dass zu diesem Grundbedarf zusätzlich noch die Miete und die Krankenkasse bezahlt wird. Sportunterricht für die Kinder wird ebenfalls übernommen. Auch günstig Einkaufen mit Vergünstigung bei Caritas usw. möglich. Die Sozialunterstützung wohl bemerkt steuerfrei!! Besteht da noch ein Anreiz zum Arbeiten? Habe jedenfalls monatlich nicht mehr zur Verfügung und dies mit täglicher Arbeit.
    • Gustav  Nörgeli 07.01.2017
      Zitat im Artikel "Zusätzlich aber zahlt die Sozialbehörde die Wohnungsmiete, Krankenversicherung, die AHV und kommt für aussergewöhnliche Auslagen auf."

      Warum nur habe ich den Eindruck, Sie hätten den Artikel gar nicht gelesen?
      Übrigens: Die Sozialhilfe ist nicht mehr steuerfrei.
      Wenn Sie wissen möchten, ob das Leben in der Sozialhilfe schöner ist, als zu arbeiten, prüfen Sie es im Feld und bieten Sie doch Ihre Stelle einem Arbeitslosen an.
  • Ernst  Rietmann aus Weinfelden
    07.01.2017
    Es wäre an der Zeit, sämtlichen gutbezahlten Politiker und Politikerinnen für drei bis vier Jahre sämtliche Einnahmen aller Art inklusive Lohn zu streichen und selbst einmal als Sozialfall leben zu lassen..... Notabene unter der Ägide der immer strenger werdenden Sozialämter inklusive Detektive etc.
    • Gustav  Nörgeli 07.01.2017
      Aber dann nicht nur ohne Lohn, sondern auch ohne soziales Netzwerk und vor allem anonym; nicht dass sie noch bevorteilt werden....
      Und dann hätte ich gerne alle Farben von links bis rechts da drin. Die Rechten, um ihnen Absurdistan vor Augen zu führen über das angeblich "gemütliche" Leben mit Sozialhilfe und die linken, damit die mal merken, was ihre Giesskannenlösungen mit 10000 Spezialfall-Verordnungen in der Praxis anrichten.