
Vian Tobal, ehemalige Armutsbetroffene und heutige UFS-Botschafterin
Engagement
Vian Tobal: Jedes Kind verdient eine unbeschwerte Kindheit
Vian Tobal flüchtete mit ihrer Familie aus Syrien und erlebte eine Kindheit in Armut. Heute macht Vian Tobal eine Ausbildung zur Bankkauffrau bei einer Basler Privatbank und auch die Familie hat den Weg aus der Sozialhilfe geschafft. Im Jahresbericht 2025 der UFS erzählt die UFS-Botschafterin, wie sie ihre Kindheit erlebt hat:
«2009 ist meine Familie aus Syrien in die Schweiz geflohen – weg vom Krieg, in der Hoffnung auf ein sicheres und besseres Leben. Fünf Jahre lang lebten wir in Asylunterkünften. Meine Eltern durften weder arbeiten noch zur Schule gehen, während wir auf den Entscheid über unseren Aufenthalt warteten. Endlich die erlösende Nachricht. Wir dürfen bleiben. Doch der Freude folgte schnell die ernüchternde Realität. Ohne Ausbildung und ohne Deutschkenntnisse standen meine Eltern auf dem harten Schweizer Arbeitsmarkt vor einer schier unüberwindbaren Hürde. Bald wurde mir unsere finanzielle Situation bewusst. Die nächtlichen Streitereien um das fehlende Geld, das Klicken des Taschenrechners, das Rascheln der unbezahlbaren Rechnungen, die sich nach und nach zu einem Stapel auf unserem Esstisch anhäuften.
Geld verdienen für das Pausenbrot
Mit 13 Jahren arbeitete ich mehrmals die Woche für ca. CHF 20. Dieses Geld reichte gerade für das Pausenbrot für mich und meinen kleinen Bruder. Zu dieser Zeit begann ich auch die Administration für meine Familie zu übernehmen. Die grosse Herausforderung bestand darin, die verschiedenen Anträge und Formulare auszufüllen. Die meisten Worte verstand ich nicht. Wenn nach der Sozialversicherungsnummer gefragt wurde, gab ich die Telefonnummer unseres Sozialarbeiters an. Wenn ich Briefe abschicken wollte, wusste ich nicht, wie man sie richtig beschriftet. Von meinem dritten Lohn habe ich mir ein Buch gekauft. Ich besitze es noch heute, es heisst: «Briefe und E-Mails gut und richtig schreiben».
Wohnungen putzen nach der Schule
Zum 16. Geburtstag schenkten mir meine Eltern ein gebrauchtes iPhone, doch statt der erwarteten grossen Freude überkam mich Scham und ein schlechtes Gewissen. Ich wusste, dass meine Eltern irgendwo gespart hatten, wo das Geld dringender gebraucht wurde, um mir ein Handy zu kaufen. Von da an versuchte ich, so wenig Kosten wie möglich zu verursachen. Ich begann nach der Schule Wohnungen zu putzen. Ich versuchte, Rechnungen vor meinen Eltern abzufangen, um sie von meinem Lohn bezahlen zu können.

Kein Geld für Ausflüge und Ferien
Wir lebten mehrere Jahre als 4-köpfige Familie von ca. CHF 3000 pro Monat. Für Ausflüge und Ferien reichte das Budget nicht mehr. In der Nacht vor Schulbeginn blieb ich fast die ganze Nacht auf, um mir eine Geschichte auszudenken, wo ich in den Sommerferien war, damit meine Klassenkameraden nicht merkten, dass wir 6 Wochen zu Hause waren. Als ich im Gymnasium war, ging ich gleichzeitig zur Schule und arbeitete fast Vollzeit nebenbei. Nach zwei Jahren war mein Körper so erschöpft und ich brach zusammen. Meine psychische und physische Gesundheit erreichte einen Tiefpunkt.
Armut bedeutet finanzielle Entbehrung und Scham
Heute bin ich 21 Jahre alt und muss leider feststellen, dass meine Situation kein Einzelfall ist. Armut bedeutet nicht nur finanzielle Entbehrung, sondern auch Scham, Angst und das Gefühl, allein zu sein. Es braucht kein Mitleid, sondern Menschlichkeit, das Zuhören und die Bereitschaft, diese Kinder und ihre Geschichten zu sehen. Armut raubt Kindern nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft. Viele tragen die Schäden und Folgen der Armut noch jahrelang mit sich herum. Jedes Kind verdient eine unbeschwerte und sorgenfreie Kindheit.
Die Mitglieder des Vereins «Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS» erhalten den Jahresbericht 2025 in diesen Tagen per Post zugestellt. Interessierte können den Jahresbericht und den Finanzbericht finden Sie hier zum Downloaden: Jahresbericht_2024_Finanzbericht_2024. Eine Mitgliedschaft lohnt sich, trägt sie doch dazu bei, dass wir unsere Arbeit im Dienst der Armutsbetroffenen leisten können. Die Jahresmitgliedschaft beträgt CHF 60 für Privatpersonen und CHF 300 für Organisationen.