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«Die Harmonisierung weiter vorantreiben»: Interview mit Christophe Roulin und Benedikt Hassler von der FHNW


Mit ihrer Studie «Vergleich von Sozialhilfeleistungen in der Schweiz HarmSoz» haben Christophe Roulin und Benedikt Hassler von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) für schweizweites Aufsehen gesorgt. Wie gross das Interesse an den Erkenntnissen der Studie ist, zeigten die zahlreichen Gäste, die die UFS anlässlich des Vortrages von Christophe Roulin im Anschluss zur UFS-Jahresversammlung vom 16. Mai 2024 begrüssen durfte. Im Interview stellen die beiden Wissenschafter ausgewählte Resultate zum Thema Wohnen vor und formulieren, wo sie dringenden Optimierungsbedarf sehen.

Christophe Roulin und Benedikt Hassler: Ihr habt bei HarmSoz verschiedene Vorgehensweisen identifiziert, wie Sozialdienste mit überhöhten Mieten umgehen. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

In unserer Studie wollten wir herausfinden, wie Gemeinden handeln, wenn ein Klient in einer Wohnung lebt, die gemäss der Mietzinslimite zu teuer ist. Dazu haben wir 31 Gemeinden mit dem fiktiven Fall eines 58 Jahre alten Mannes konfrontiert, der seit Geburt in der Gemeinde wohnhaft, gesundheitlich angeschlagen ist und in einer Wohnung lebt, die mit 400 Franken über der Mietzinslimite der Gemeinde liegt.
Eine Gemeinde würde ab dem ersten Tag nur so viel Miete übernehmen, wie es die Mietzinslimite vorsieht. Das wäre für den Klienten fatal, da er ab sofort 400 Franken aus dem Grundbedarf für seinen Lebensunterhalt aufwenden müsste. Dies ist weder mit kantonalen Gesetzen noch mit den SKOS-Richtlinien in Einklang zu bringen.
Einige Gemeinden würden den Gesundheitszustand des Klienten berücksichtigen. Solange der Klient mit einem Arztzeugnis belegt, dass sein Gesundheitszustand keinen Umzug zulässt, wird hier die überhöhte Miete übernommen. Aber auch diesbezüglich gab es Unterschiede. So würde eine Sozialarbeiterin einer Übernahme der überhöhten Miete nur zustimmen, wenn sich der Klient in eine Therapie begibt und dies mit entsprechenden Zeugnissen belegt.
Beim Umgang mit überhöhten Mieten alle identifizierten Unterschiede aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen, aber es soll doch noch erwähnt werden, dass Gemeinden vom Klienten verlangen, sich ab sofort eine Wohnung innerhalb der Mietzinslimite zu suchen. Wenn der Klient dieser Aufforderung nachkommt und Belege über Wohnungsbemühungen abgibt, könnte er, bis er etwas Neues gefunden hat, in der Wohnung bleiben und die überhöhte Miete wird übernommen. Auch die SKOS empfiehlt überhöhte Mietkosten so lange zu übernehmen, bis eine günstigere Wohnung zur Verfügung steht. Dabei gilt es jedoch auch immer zu prüfen, ob im Einzelfall ein Umzug zumutbar wäre. Andere Dienste nehmen weder auf den gesundheitlichen Zustand Rücksicht noch verlangen sie Wohnungsbemühungen. Sie bezahlen einfach fix bis zum nächsten Kündigungstermin die überhöhte Miete. Danach müssen die Sozialhilfebeziehenden den Anteil der Miete, der über der Limite liegt, aus dem Grundbedarf bezahlen.

Ihr habt die Mietzinslimiten ewähnt, die jede Gemeinde zu bestimmen hat. Gab es auch hier grosse Unterschiede, wie diese festgelegt werden?

Zwischen den Gemeinden gibt es grosse Unterschiede bezüglich der Mietzinslimiten. Ein Teil der Unterschiede kann durch unterschiedlich hohe Mietzinsniveaus begründet werden. Allerdings gibt es zwei gute Indikatoren, die darauf hinweisen können, dass die Limiten nicht angemessen sind.

1. Wenn Sozialhilfebeziehende keine Wohnungen finden können, deren Miete innerhalb der Limite liegt, und
2. wenn ein hoher Anteil der Sozialhilfebeziehenden einen Teil der Miete aus dem Grundbedarf bezahlt.

Wir haben Gemeinden befragt, in welchen ca. 40 Prozent aller Dossiers eine überhöhte Miete ausweisen und die Sozialhilfebeziehenden einen Teil der Miete aus dem Grundbedarf bezahlen. In solchen Fällen muss davon ausgegangen werden, dass die Mietzinslimite zu tief angesetzt ist. Problematisch ist, dass einige Gemeinden nicht erheben, wie viele Sozialhilfebeziehende Mieten aus dem Grundbedarf bezahlen. Aus unserer Sicht wäre dies jedoch ein wichtiger Indikator, um die Mietzinslimite festzulegen. Interessant fanden wir diesbezüglich das Vorgehen einer Gemeinde, welche jedes Jahr prüft, wie viele Dossiers eine überhöhte Miete aufweisen und bei einer Quote von 15 Prozent die Limite erhöht.
Dies ist aber nur eine Variante, um eine Mietzinslimite festzulegen. Verbreitet ist es, die Angebotsmieten zu beobachten, also zu schauen, welche Wohnungsgrössen zu welchem Preis in der Gemeinde auf den Markt kommen. Dies machen die Gemeinden entweder selbst, oder sie nehmen die Dienstleistungen von Wüest Partner AG in Anspruch, welche diese Daten für alle Gemeinden erhebt und zusätzlich noch den Leerstand berücksichtigt. Auch hier zeigen sich jedoch grosse Unterschiede. Einige Gemeinden überwachen den Wohungsmarkt permanent und erfassen jede ausgeschriebene Wohnung. Andere Gemeinden kontrollieren an einem beliebigen Tag, wie viele Wohnungen ausgeschrieben sind.
Auch bezüglich der Festlegung der Limte gibt es also viele Vorgehensweisen, so dass wir nur eine kleine Auswahl benennen können. Sinnvoll sind sicher regionale Absprachen, damit Sozialhilfebeziehende nicht zwischen den Gemeinden hin- und hergeschoben werden. Jedoch sind solche Absprachen nicht überall möglich, da nicht alle Sozialdienste die Mietzinslimiten offenlegen. Da wären die Kantone gefragt, die in dieser Hinsicht eine Koordinationsaufgabe wahrnehmen könnten.

Haben die SKOS-Richtlinien die harmonisierende Wirkung, die ihnen zugemessen wird?

Wir beobachteten in unserer Studie tatsächlich grosse Unterschiede  in vielen Bereichen der Sozialhilfe. Gleichzeitig kann daraus nicht geschlossen werden, dass die SKOS-Richtlinien keine harmonisierende Wirkung haben. Ein einfaches Beispiel dafür ist der Grundbedarf, der über die Schweiz betrachtet überall etwa gleich hoch ausfällt. Wir haben beispielsweise keine Gemeinde gefunden, die beim Grundbedarf von den kantonalen Vorgaben abgewichen ist. Auch ist zu sagen, dass die SKOS-Richtlinien durchaus einen Einfluss auf die kantonalen Sozialhilfegesetze haben und diesbezüglich sicherlich harmonisierend wirken.
Um auf den Umgang mit überhöhten Mieten zurückzukommen: Wie bereits angemerkt bezahlen einige Gemeinden dem fiktiven Klienten die Miete nur bis zum nächsten Kündigungstermin. Dies tun sie unabhängig davon, ob er sich um eine billigere Wohnung bemüht oder nicht. Das heisst, die Sozialdienste verlangen eine Kündigung ins Blaue ohne Anschlusslösung. In diesem Fall ist es so, dass einige kantonale Verwaltungsgerichte auf die SKOS-Richtlinien Bezug nehmen und diese Praxis untersagen.
Man kann also nicht sagen, dass die SKOS überhaupt keine harmonisierende Wirkung hat. So prüfen einige kantonale Gerichte auch, ob die Sozialbehörden ihre Mietzinsrichtlinien gemäss den Empfehlungen der SKOS «fachlich begründet» festgelegt haben und sich «auf Daten des lokalen und aktuellen Wohnungsangebotes abstützen». Zugleich kann nicht gesagt werden, dass die Sozialhilfe in der Schweiz ausreichend harmonisiert ist. Gerade bezüglich des Umgangs mit überhöhten Mieten und dem Festlegen der Mietzinslimiten sollte die Harmonisierung weiter vorangetrieben werden. Um den Sozialhilfebezug besser zu verstehen, und Aussagen zum Grad der Harmonisierung machen zu können, bedarf es eines unabhängigen Monitorings des Sozialhilfevollzuges.

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