Die Sozialhilfe in der Schweiz und die UFS
Prof. Dr. Carlo Knöpfel hat anlässlich des 10-Jahr-Jubiläums der UFS die Sozialhilfe in der Schweiz analysiert, die Schwächen offengelegt, Forderungen für Verbesserungen formuliert und die Bedeutung der UFS gewürdigt. Lesen Sie hier seine Ausführungen
Die Sozialhilfelandschaft ist in der Schweiz alles andere als ein homogenes Gebilde. Zu gross sind allein schon die organisatorischen Unterschiede zwischen der Deutsch- und der Westschweiz. Wo die einen die Sozialhilfe weitgehend an die Gemeinden delegieren, sind bei den anderen die Kantone in der Pflicht. Das führt zu einem Flickenteppich, der durch kein nationales Sozialhilfegesetz zusammengehalten wird. In den letzten 30 Jahren hat es immer wieder Anläufe gegeben, die Sozialhilfe in der Schweiz zu harmonisieren. Liest man den letzten Bericht des Bundesamtes für Sozialversicherungen zu diesem Thema, findet man durchaus Sympathie für eine nationale Gesetzgebung. Nur fehlte in diesem Bericht jeder Hinweis, wie sich der Bund, sollte er in diesem Feld der Sozialpolitik legiferieren, sich an den Kosten der Sozialhilfe beteiligen würde. Wenig überraschend wehrte sich die Konferenz der Sozialdirektorinnen und -direktoren gegen den Verlust dieser Kompetenz und verwiesen auf die Möglichkeit eines interkantonalen Konkordats. Allen Beteiligten war klar, dass dieses niemals kommen würde. Möglicherweise ist es tatsächlich vergebliche Liebesmüh, sich für ein nationales Sozialhilfegesetz zu engagieren.
Gute Lösungen sind möglich
Rechtlich einfacher, aber auch radikaler wäre es, die Sozialhilfe durch die Ergänzungsleistungen zu ersetzen. Damit müssten keine neuen verfassungsrechtlichen Grundlagen geschaffen werden, die Harmonisierung der Leistungen wäre gewährleistet und die materielle Unterstützung für die Betroffenen besser. So abwegig ist dieser Vorschlag nicht. Der Bund hat sich auch mit dieser Frage wiederholt beschäftigt, kam aber zu keinem mehrheitsfähigen Vorschlag. Inzwischen haben aber einige Kantone Ergänzungsleistungen für Familien eingeführt, die den Weg in die richtige Richtung weisen.
Das fehlende nationale Sozialhilfegesetz kann durch die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe nur bedingt kompensiert werden. Diese Richtlinien sind Empfehlungen, denen die Kantone mehr oder weniger weit folgen. Unterschiede zeigen sich nicht nur bei den materiellen Leistungen, also etwa beim Grundbedarf und dessen Anpassung an die Teuerung, sondern zum Beispiel auch im Bereich der sozialen und arbeitsmarktlichen Integrationsmassannahmen oder bei den situationsbedingten Leistungen. Da hilft die rechtliche Beratung der Sozialdienste durch die SKOS auch nicht immer weiter. Diese heterogene Sozialhilfelandschaft führt vielmehr zu einer Ungleichbehandlung der Betroffenen. Nicht nur die Armut, auch die Unterstützung durch die Sozialhilfe hängt vom Wohnort ab.
Strukturelle Gründe führen Fehlentscheiden
Wo Menschen entscheiden, passieren Fehler. Es kann hier nicht darum gehen, einzelne Sozialarbeitende in der Sozialhilfe auf Grund ihrer nicht korrekten Rechtsentscheide an den Pranger zu stellen. Vielmehr muss auf strukturelle Gründe hingewiesen werden, die rechtliche Fehlentscheide geradezu provozieren.
Viele Sozialämter leiden unter Personalmangel. Die Fluktuation ist hoch. Die Zeit für eine gute Einführung in die Materie knapp. Oftmals werden Leute angestellt, die mit der Materie nicht gut vertraut sind, aber rasch Verantwortung für ihre Dossiers übernehmen müssen. So sinnvoll «learning by doing» sein mag, in diesem sensiblen Bereich ist diese Methode fehl am Platz.
Zudem wird in manchen Sozialämtern die hohe Dossierzahl beklagt. Die Sozialarbeitenden haben kaum Zeit, sich mit den einzelnen Fällen vertieft auseinanderzusetzen. Entscheide müssen rasch getroffen und kommuniziert werden. Das Risiko, falsch zu liegen, ist entsprechend gross. Es überrascht darum nicht, dass einzelne Sozialdienste inzwischen die Zahl der zu betreuenden Dossiers pro angestellte Person reduziert haben. Diese Massnahme führt nicht nur zu einer höheren Ablösequote, sondern reduziert auch die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheiden.
Ein dritter struktureller Grund, der zu nicht korrekten Entscheiden in der Sozialhilfe beiträgt, ist die mangelhafte Ausbildung der Sozialarbeitenden im Sozialhilferecht. Die Hochschulen für Soziale Arbeit investieren vergleichsweise wenig in den sozialrechtlichen Kompetenzerwerb. Auch die Rechtsfakultäten der Universitäten halten sich in Sachen Sozialversicherungs- und Sozialhilferecht vornehm zurück. Die eingeschränkten Möglichkeiten für eine kompetente Ausbildung stehen in einem krassen Kontrast zur Regelungsdichte im Sozialhilferecht. Die Richtlinien der SKOS werden immer komplexer, die Ausführungen zum Verständnis der Richtlinien von Revision zu Revision ausführlicher. Wer sich die neueste Ausgabe dieser Richtlinien ansieht, gewinnt nicht zufällig den Eindruck, dass es sich um ein Gesetz mit den entsprechenden Ausführungsbestimmungen handelt.
Reaktion auf wachsende Komplexität
Damit reagiert die SKOS aber nur auf die wachsende Komplexität der Fälle in der Sozialhilfe. Menschen, die bei der Sozialhilfe Unterstützung suchen, haben selten nur zu wenig Geld. Sie befinden sich vielmehr in einer prekären Lebenslage und haben mit zahlreichen Problemen zu kämpfen, sei dies auf dem Arbeitsmarkt, sei dies im Zusammenhang mit der Wohnsituation, sei dies wegen gesundheitlicher Einschränkungen, sei dies auf Grund ihrer hohen Schulden. Trotz all dieser Schwierigkeiten haben sie aber ein Anrecht auf ein würdiges Leben in unserer Gesellschaft. Darauf weist die Bundesverfassung in Artikel 12 hin. Ich zitiere: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» Zitatende.
Die Arbeit auf den Sozialdiensten ist entsprechend äusserst anspruchsvoll. Und es überrascht nicht, dass dabei Fehler passieren. Wir dürfen aber nicht erwarten, dass die Betroffenen ohne Hilfe von Dritten merken, dass da etwas nicht stimmen kann. Hier braucht es einen rechtlichen Beistand von Leuten, die in kompetenter Weise Menschen helfen, die annehmen, dass sie in der Sozialhilfe nicht zu ihrem Recht gekommen sind. Die UFS füllt diese Lücke als Pionierin auf diesem Gebiet. Inzwischen laufen auch in anderen Kantonen Bemühungen, die unentgeltliche Rechtsberatung für armutsbetroffene Sozialhilfebeziehende auf- und auszubauen. Wie wichtig diese Arbeit für die Betroffenen ist, möchte ich mit einem Zitat aus einem Leserbrief illustrieren, der im Strassenmagazin von Surprise 535/22 zu lesen war. Ich zitiere: «So steht mir aufgrund persönlichen Engagements und Unterstützung durch die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilfer4echt mittlerweile deutlich mehr Geld zur Verfügung als ohne Intervention (…). Mir tun die Leute leid, die nicht über diese Möglichkeit verfügen. Die Gemeinden sollten verpflichtet werden, die Bezüger*innen über die Existenz der UFS aufzuklären, es sollte in einem der vielen Papiere stehen, die man unterzeichnet.» Zitatende.
Zum Verhältnis von Sozialdiensten zur UFS
Wie muss man sich das Verhältnis zwischen den Sozialdiensten und der UFS vorstellen? Die Vermutung liegt nahe, dass diese Beziehung konfliktiver Art ist. Das muss aber nicht sein. Vielmehr ist zu wünschen, dass das Zusammenwirken von Sozialhilfe und unabhängiger Rechtsberatung von einem gemeinsamen Lernen und einem gemeinsamen Wunsch nach korrekter rechtlicher Behandlung der Betroffenen geprägt ist. Dazu gehört, dass im einvernehmlichen Gespräch zwischen den Sozialarbeitenden in den Sozialdiensten und den Juristinnen und Juristen der UFS Ermessenspielräume zu Gunsten der Hilfesuchenden und nicht primär zu Gunsten der Sozialhilfe ausgelotet werden.
Das bedeutet, dass die UFS nicht einfach interveniert, damit interveniert ist. Unabhängige Rechtsberatung meint schliesslich auch, dass den Betroffenen erklärt wird, wie der Sachverhalt zu verstehen ist. Und in nicht wenigen Fällen sind die Entscheide rechtens, auch wenn sie von den Betroffenen als ungerecht empfunden werden. Auch diese empathische Soziale Arbeit, die von der UFS geleistet wird, muss anerkannt und honoriert werden.
Zur Finanzierung
Bleibt die Frage nach der Finanzierung der UFS und aller weiteren unentgeltlichen Rechtsberatungen im Sozialhilferecht. Auf der einen Seite erbringt die UFS so etwas wie einen service public für Menschen, die sich Anwältinnen und Anwälte nicht leisten können, auf der anderen Seite muss sich die UFS ihre Unabhängigkeit bewahren. Es ist darum gut, wenn sich Gemeinden und Kantone dazu durchringen, die Leistungen der UFS abzugelten. Neu ist dieser Ansatz nicht. So kennt zum Beispiel die Invalidenversicherung seit vielen Jahren eine unentgeltliche Rechtsberatung, die von ihr finanziert wird. Diese Stellen halten sich aber im sozialpolitischen Diskurs vornehm zurück. Darum ist zugleich aber auch die Zivilgesellschaft gefordert, die UFS weiter zu unterstützen. Nur so kann sie sich jene Unabhängigkeit bewahren, die sie für ihre Arbeit benötigt. Diese Arbeit greift über die Rechtsberatung hinaus. Die UFS mischt sich auch in die Sozialpolitik ein. Als kompetenter Akteur mit jahrelanger Erfahrung erhebt sie ihre Stimme, wenn die nationale oder kantonale Sozialpolitik auf Abwege gerät. Immer wieder weist sie auf rechtliche Missstände hin, die manchen, die sich in der Sozialhilfe nicht so gut auskennen, entgangen wären. Sie wird damit zu einem «public eye» in der Sozialpolitik und Teil einer Allianz von Akteuren, die sich für die benachteiligten Menschen und mit ihnen engagieren. Das ist eine aufwendige Arbeit, nicht zuletzt darum – und hier schliesst sich der Kreis -, weil die Sozialhilfe nicht national, sondern kantonal und kommunal organisiert ist.
Ich begrüsse es sehr, dass die UFS auch dieses sozialpolitische Mandat wahrnimmt. Damit sie dies auch weiterhin tun kann, muss sie aber ihre Unabhängigkeit bewahren.