Beschwerde gegen Zürcher Gesetzesverschärfung eingereicht
Eine vom Zürcher Kantonsrat beschlossene Gesetzesänderung schränkt die Grundrechte der Sozialhilfebeziehenden stark ein. Gegen diese hat die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag Beschwerde eingereicht.
Lange ging alles gut. Die junge Frau macht eine Lehre, schlägt sich mit ihrem knappen Lohn zweieinhalb Lehrjahre lang selbstständig durch. Sie kommt knapp über die Runden. Doch dann, sieben Monate vor dem Lehrabschluss, reicht das Geld nicht mehr aus. Sie gerät in eine akute finanzielle Notlage. Sie meldet sich beim Sozialamt an. Dort sagt man der Frau, dass sie spätestens nach fünf Monaten eine Arbeitsstelle haben müsse. Die Frau müsste ihre Lehre also zwei Monate vor dem Lehrabschluss abbrechen. Andernfalls will das Amt die Frau nicht weiter unterstützen. Ein unsinniger Entscheid, der die junge Frau vor existenzielle Probleme stellt.
Gegen solche sogenannten Zwischenverfügungen von Sozialämtern können sich Sozialhilfebeziehende im Kanton Zürich seit Kurzem nicht mehr wehren. Der Grund ist eine vom Zürcher Kantonsrat beschlossene Gesetzesänderung, die genau diese Einschränkung zum Ziel hat. In allen anderen Lebensbereichen bleiben Zwischenverfügungen aber anfechtbar. Sprich, die neue Regelung diskriminiert Sozialhilfebeziehende. Im konkreten Beispiel müsste die junge Frau entweder ihre Lehre abbrechen – oder die Zwischenverfügung missachten. In letzterem Fall würden ihr die Leistungen gekürzt. Erst dagegen könnte sie sich wehren. Wenn sie ihre Lehre zu Ende führt, geht sie damit also ein für sie zu jenem Zeitpunkt nicht abzuschätzendes Risiko ein. Dass sie sich nicht bereits gegen die Zwischenverfügung wehren kann, ist also hochproblematisch.
Im Namen von drei Sozialhilfebeziehenden und mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen hatte die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS die Gesetzesänderung deshalb beim Bundesgericht angefochten. Zwar erachteten auch zwei Bundesrichter in der öffentlichen Verhandlung den Gesetzesartikel als «eines Rechtsstaates unwürdig». Doch sie wurden von ihren drei Richterkolleginnen und -kollegen überstimmt. Das Bundesgericht wies die Beschwerde somit knapp ab. Als Folge davon trat das Gesetz im April 2020 in Kraft. Das hat für die Betroffenen weitreichende Folgen. Willkürlichen Behördenentscheiden sind sie noch unmittelbarer ausgesetzt. Aus Sicht der Beschwerdeführenden ist das eine unhaltbare Situation. Aus ihrer Praxis wissen sie zudem, dass Sozialämter viel zu oft unverhältnismässige Zwischenverfügungen ausstellen – das eingangs erwähnte Beispiel ist bei weitem kein Einzelfall.
Die UFS hat am 25. Juni 2020 – unterstützt von der Caritas Zürich, dem Sozialwerk Pfarrer Sieber, dem SAH Zürich und dem Berufsverband für Soziale Arbeit AvenirSocial Zürich & Schaffhausen – beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg Beschwerde eingereicht. Dies ist aufgrund der folgenschweren Gesetzesverschärfung notwendig, auch wenn die Chancen für einen Erfolg rein rechnerisch nicht besonders gross sind: Ein Drittel der Beschwerden wird von den Richterinnen und Richtern in Strassburg direkt abgewiesen – weitere 60 Prozent nach einer eingehenden Prüfung. Insgesamt werden also nur rund zehn Prozent der Beschwerden gutgeheissen. Kommt dazu, dass es sich bei der Beschwerde ans Bundesgericht um eine sogenannte abstrakte Normenkontrolle handelt – es wird kein konkreter Fall überprüft, sondern der Gesetzestext an sich. Das bringt zusätzliche juristische Hürden mit sich.
Doch eine kleine Chance besteht. Und diese gilt es zu nutzen. Andernfalls bleiben die Grundrechte verletzt: Fast 50‘000 auf Sozialhilfe angewiesene Personen – davon sind rund ein Drittel Kinder und Jugendliche – verlieren ihr Recht auf ein faires Verfahren. Das gilt es mit allen Mitteln zu verhindern.
25. Juni 2020 Bild: Adobe Stock