Die Sozialhilfe ist systemrelevant - deshalb muss sie sich ändern
Der Sozialhilfe kommt bei der wirtschaftlichen Überwindung der Coronakrise eine wichtige Funktion zu. Doch die Krise zeigt auch den grossen Reformbedarf bei dem Sozialwerk auf.
Seit Monaten befindet sich die Schweiz in einem Ausnahmezustand. In der Coronakrise entstehen auch viele individuelle Krisen. Besonders betroffen sind jene Menschen, deren Ressourcen bereits zuvor knapp waren. Und die Zahl jener, die in Not geraten, steigt an. In dieser Situation zeigt sich die Wichtigkeit der Sozialhilfe als unterstes Sicherungssystem. Es werden aber auch ihre Mängel deutlich erkennbar. Im Zentrum der politischen und öffentlichen Debatte über die wirtschaftliche Krisenbewältigung steht das – sinnvolle – Notpaket des Bundesrats. Trotz der enormen Potenz dieses 60-Milliarden-Franken-Rettungspakets (Stand April) fallen Menschen durch die Maschen. Viele Sozialämter melden denn auch schon kurz nach Beginn der Coronakrise einen markanten Anstieg der Anfragen und Anmeldungen. Das unterste Sicherungssystem, das seit Jahren im politischen Gegenwind steht, leistet wie bereits seit Jahrzehnten seine staatstragenden Dienste – im Stillen und zu tiefen Kosten. Zum Vergleich: Mit 60 Milliarden Franken kann die Sozialhilfe über 20 Jahre lang finanziert werden.
Stress und Hunger trotz Sozialhilfe
Doch ihrer Wichtigkeit und Systemrelevanz zum Trotz weist die Sozialhilfe grosse Mängel auf. Das erfahren auch jene, die jetzt neu auf Sozialhilfe angewiesen sind. Wer in einer Notlage steckt, braucht umgehend Hilfe. Beim Notpaket des Bundesrats für die Unternehmen dauert es nur 30 Minuten, bis ein Kreditentscheid vorliegt. Das macht Sinn. Zwar haben auch Sozialdienste bekannt gegeben, aufgrund der Coronakrise Sozialhilfeanträge schneller zu bearbeiten. Und die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat für die Coronasituation folgende Empfehlung gegeben: «Ob und in welchem Umfang eine Bedürftigkeit besteht, lässt sich in vielen Fällen bereits dann abschätzen, wenn die persönlichen Umstände und die Subsidiarität noch nicht umfassend geklärt sind. Wenn die Notlage mit hoher Wahrscheinlichkeit besteht, ist auf Grundlage der vorhandenen Informationen eine Unterstützung zu bemessen und (allenfalls bevorschussend) auszurichten.»
Dennoch: Wenn Personen in der Schweiz in wirtschaftliche Not gelangen, dauert es häufig bis zu zwei Monate, bis sie finanzielle Hilfe erhalten. Das ist viel zu lange und sorgt für Hunger, Ängste und Stress. Zum Stress trägt auch bei, dass Armutsbetroffene von den Behörden bis in die intimsten Lebensbereiche hinein durchleuchtet werden – und dann dennoch unter latentem Betrugsverdacht stehen. Auch hier handelt die öffentliche Hand im Umgang mit den Unternehmen anders und besser. Und wenn die Betroffenen dann Sozialhilfeleistungen bekommen, folgt ein weiterer Schock: Zum Leben und Wohnen reichen die Sozialhilfegelder kaum. Sozialer Verzicht und zu Hause bleiben müssen werden so auch ganz ohne Coronakrise zum Dauerzustand. Für alles andere fehlt es schlicht an Geld. Menschenwürdig, wie es die Bundesverfassung vorsieht, ist die Sozialhilfe so nicht.
Strukturelle Probleme
Seit fast zwei Jahrzehnten läuft eine politische Negativkampagne gegen die Sozialhilfe. Die Folgen: Auf eine notwendige Leistungserhöhung wurde verzichtet. Gleichzeitig wurden und werden die Sozialhilfeleistungen teilweise massiv gekürzt. Dass die effektiven Leistungen erheblich tiefer sind als noch nach der Jahrtausendwende, dürfte auch an der grundsätzlichen Organisation der Sozialhilfe liegen. Denn anders als bei den anderen staatstragenden Sozialwerken wie die IV, AHV usw. ist die Sozialhilfe auf Bundesebene gesetzlich nicht geregelt.
Die Kompetenzen liegen bei den Kantonen, was zur Folge hat, dass 26 verschiedene Sozialhilfegesetze, ebenso viele Verfahrensgesetze und zahlreiche Verordnungen existieren. Die SKOS erarbeitet zwar Vorgaben über Art und Höhe der Sozialhilfeleistungen, die Richtlinien der SKOS gelten jedoch erst, wenn sie der jeweilige Kanton für verbindlich erklärt hat. Der Vollzug der Sozialhilfe liegt zudem weitgehend bei den Gemeinden, vor allem in der Deutschschweiz. Den Gemeinden kommt dabei ein grosser Ermessensspielraum zu. Dieser wird teilweise sehr beliebig ausgelegt, wie der Auszug aus einem Entscheid eines Sozialamtes veranschaulicht: «Der Klient wird hiermit darauf hingewiesen, dass er, gestützt auf die gesetzlichen Grundlagen, als Befehlsempfänger gilt. Das Verfahren bestimmt das Sozialamt und nicht die Klienten. Die Klienten haben den Anordnungen der Behörde Folge zu leisten und die Folgen eines unkooperativen Verhaltens zu tragen. Die Klienten der Sozialhilfe haben die Pflicht, alles daran zu setzen, sich aus der Notlage selbst heraus zu manövrieren und an sämtlichen Programmen, Integrationsmassnahmen sowie Beschäftigungsprogrammen etc. teilzunehmen. Die Behörde definiert, welche Massnahmen für richtig erachtet und verfügt werden.»
Auch die Kosten der Sozialhilfe werden in den meisten Kantonen ganz oder zumindest teilweise von den Gemeinden getragen. Die Sozialhilfeausgaben stellen für diese eine grosse Belastung dar. Doch auch die Kantone probieren, die Ausgaben zu drücken. Bemühungen zur nationalen Harmonisierung werden so immer stärker unterlaufen. Die Leistungen und der Zugang zur Sozialhilfe variieren zwischen den Kantonen und teilweise sogar innerhalb von Kantonen unter den Gemeinden sehr stark. Dabei entsteht ein unguter Standortwettbewerb um die tiefsten Sozialhilfeleistungen. Zudem existieren bezüglich der Höhe der Sozialhilfeleistungen grosse Unterschiede zwischen einzelnen sozialen Gruppen. Die Ansätze für junge Erwachsene und Ausländer*innen sind häufig massiv tiefer als jene für die anderen Anspruchsgruppen. Dies alles hat fatale Auswirkungen auf die Betroffenen und die Gesellschaft.Wenn in der Sozialhilfe vor allem Stress, soziale Isolation und ein materieller Mangel warten, sind gesundheitliche Probleme das Resultat. Für die Betroffenen wird die Krise so zum persönlichen Dauerzustand – für die Gesellschaft resultieren Folgekosten, die um ein Vielfaches höher sind als die Kosten für die Sozialhilfe.
Der Bund ist in der Pflicht
Es ist an der Zeit, die Sozialhilfe neu zu denken. Die aktuelle Situation zeigt: Der Bund ist in der Lage, zu handeln. Auch in der Sozialhilfe ist sein Krisenmanagement dauerhaft gefordert. Ein Bundesrahmengesetz, das die Sozialhilfe zur Bundeskompetenz macht, würde auch die Gemeinden und die Kantone entlasten. Dies scheint in der aktuellen Situation wichtiger denn je. Mit der Sozialhilfe bekäme der Bund zudem ein Mittel in die Hand, mit dem er gesellschaftliche Krisen landesweit in jeder Situation und zu einem verhältnismässig kleinen Preis abfedern könnte. Der Bund könnte mit der Sozialhilfe eine umfassendere und nachhaltigere Armutspolitik betreiben. Dazu gehören auch eine Angleichung der Sozialhilfeleistungen an jene der Ergänzungsleistungen und ein verbesserter Rechtsschutz für Sozialhilfebeziehende. Für den Bund wäre dies finanzierbar – und eine wichtige und nachhaltige Investition. Denn nur so ist garantiert, dass die Sozialhilfe künftig bereit ist, individuellen und gesellschaftlichen Krisen nachhaltig vorzubeugen.