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Wo Richtlinien und Praxis auseinander gehen

Wie es sich für Adressat*innen anfühlen kann, wenn eine Behörde gezwungen ist, gesetzliche Vorgaben umzusetzen, zeigt dieser persönliche Bericht einer ehemaligen Sozialhilfebezieherin aus dem Kanton Freiburg.             

Es kann alle treffen. So, wie es auch mich getroffen hat. Trotz meinen verschiedenen Ausbildungen im Detailhandel, in der Verwaltung und im Kunstgewerbe hatte ich infolge zweier aufeinanderfolgender schwerer gesundheitlicher Probleme zuerst meinen Job und dann mein soziales Umfeld und meine finanzielle Unabhängigkeit verloren. Da ich in dieser Notlage keinen anderen Ausweg mehr sah, beschloss ich, mich an den Sozialdienst meiner Gemeinde zu wenden. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, dass das Sozialhilfegesetz (SHG) des Kantons Freiburg und die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz der Sozialhilfe (SKOS) in der Praxis teilweise widersprüchlich ausgelegt werden.

Gemäss Artikel 2 des SHG1 bezweckt die Sozialhilfe, die Eigenständigkeit bedürftiger Personen zu fördern. Leider musste ich aber selbst erleben, wie der Sozialhilfebezug nach meinem Empfinden mit dem Verlust des freien Willens und der mit diesem verbundenen Entscheidungsfreiheit einhergeht.

Das erste Beispiel betrifft meine damalige Wohnsituation. Da meine Miete den vom Sozialamt festgelegten Betrag für eine alleinlebende Person ohne Kind überstieg (damals 750 Franken), verlangte der zuständige Sozialarbeiter von mir, dass ich unverzüglich umziehe. Weil ich meine 2,5-Zimmer- Wohnung gerne behalten, zugleich aber auch die geltenden Richtlinien befolgen wollte, schlug ich stattdessen als Alternative vor, eines meiner Zimmer zur Untermiete auszuschreiben. So würde ich die zusätzlichen Kosten eines Umzugs sparen und gleichzeitig meine Schuld gegenüber dem Sozialamt nicht unnötig vergrössern. Obschon ich mit meinem Vorschlag innerhalb der von der Sozialkommission (SK) gesetzten Frist lag, beschloss der verantwortliche Sozialarbeiter, die Überweisung des gesamten Betrags für die Miete einzustellen, und zwar aufgrund «Nicht-Befolgens des SK-Entscheids», sprich der Aufforderung zum Umzug. Infolgedessen war ich nicht in der Lage, meine Miete zu bezahlen. Um einer Zwangsräumung sowie allfälligen Betreibungsbegehren zu entgehen, lieh ich mir den Betrag für die Mieten und reichte Rekurs ein. Schliesslich genehmigte die SK meinen Vorschlag; ich konnte meine Wohnung behalten und überdies einiges an Zeit und Geld sparen, was letztlich ja auch dem Sozialamt zugutekam.

Ich weiss noch, wie ich in dieser Situation einerseits alles daransetzen wollte, meine persönliche und finanzielle Autonomie zurückzugewinnen, mich aber gleichzeitig durch die ausgesprochene Sanktion insbesondere in meinem Handlungsspielraum stark eingeschränkt fühlte.

Das zweite Beispiel betrifft die individuelle Unterstützung. In der Zeit, in der ich Sozialhilfe beanspruchte, bedurfte ich vor allem kurz- und mittelfristiger finanzieller Unterstützung. Stattdessen hatte ich das Gefühl, dass man mir nicht zutraute, mein Leben alleine meistern zu können. Ich hatte das Gefühl, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Mir schien, als würde der zuständige Sozialarbeiter nicht begreifen, dass meine finanzielle Situation das Resultat meiner gesundheitlichen Probleme war und nicht etwa die Folge der Unfähigkeit, mein Leben im Griff zu haben. Kurzum: Ich fühlte mich stigmatisiert, macht- und wertlos. Das dritte Erlebnis bezieht sich auf die Information und Beratung, die von der Sozialhilfe gemäss Artikel 4 Absatz 1 des SGH zu leisten ist. Tatsächlich hatte mich die zuständige Person beim Sozialamt zwar über meine Pflichten und Verantwortlichkeiten in Kenntnis gesetzt, nicht jedoch über meine Rechte. So wurde ich beispielsweise nicht darüber informiert, dass ich als Sozialhilfebezieherin die Möglichkeit hatte, ein Gesuch für die Herabsetzung bzw. den Erlass der AHV-Beiträge zu stellen.

 Auch wurde mir auferlegt, mein persönliches Vermögen vollständig aufzubrauchen, obwohl ich gemäss SHG das Recht gehabt hätte, einen Vermögensfreibetrag von 4000 Franken zurückzubehalten. Gezwungenermassen entwickelte ich mit der Zeit die notwendigen Kompetenzen, um mich selbst über die geltende Praxis sowie die Rechte und Richtlinien in Sachen Sozialhilfe zu informieren.Das alles hat mich wütend gemacht, und ich habe mich nicht nur ungerecht behandelt, sondern auch ausgeliefert gefühlt. Bedauernswerterweise gibt es im Kanton Freiburg zu wenig neutrale Stellen, die die Sozialhilfebeziehenden in juristischen Belangen beraten. Im Falle eines Rechtsstreits steht man alleine da.

Ich möchte betonen, dass der Gang zum Sozialamt kein leichter ist. Ich hatte schlichtweg keine andere Wahl. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich auf so viel Widerstand und Ablehnung stossen würde. Ich fühlte mich isoliert und ausgegrenzt. Doch auch wenn meine Geschichte äusserst traumatisierend war, so möchte ich doch hoffen, dass andere Personen andere Erfahrungen gemacht haben und ihnen die Sozialhilfe wirklich geholfen hat, ihre finanzielle und persönliche Eigenständigkeit wiederzuerlangen. Genauso, wie es die SKOS-Richtlinien und die Gesetzestexte eigentlich vorschreiben. Wobei hier anzumerken ist, dass auch diese einen grundsätzlichen Widerspruch in sich bergen: So steht die in Artikel 29 des freiburgischen SHG beschriebene Rückerstattungspflicht in auffälligem Kontrast zum hehren Ziel, wonach Sozialhilfebeziehende ihre finanzielle Autonomie so schnell wie möglich wiedererlangen sollen. Das Prinzip der Schuldentilgung gegenüber dem Sozialamt hält die Beziehenden aber noch lange Zeit in einer prekären finanziellen Situation gefangen.

Auch wenn ich selbst negative Erfahrungen gemacht habe, bin ich mir sicher, dass dies nicht für alle Sozialhilfebeziehenden der Fall ist. Es gibt bestimmt Personen, für die sich das Verfahren weniger beschwerlich und aufreibend gestaltet hat. Dass ich mit meinem Erlebnisbericht jedoch nicht alleine dastehe, zeigen die Studien der SKOS und der Stiftung ATD Vierte Welt auf eindrückliche Weise.

Der Text der ehemaligen Sozialhilfebezieherin Karine Donzallaz ist in der Februarausgabe des Magazins «SozialAktuell» erschienen. Die UFS veröffentlicht den Text auf ihrer Webseite mit Erlaubnis der Redaktion.

(publiziert: 17. März 2021, Bild: Adobe Stock)

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