«Wohnen am Limit» beweist: Der Flickenteppich in der Sozialhilfe ist grösser, als bisher angenommen.
«Im Aargau und in Zürich können Sozialhilfebeziehende durchschnittlich deutlich weniger für ihre Wohnung ausgeben als in den Kantonen Solothurn oder Basel-Landschaft.» Diesen Schluss ziehen die Journalist:innen von Reflekt und Oeffentlichkeitsgesetz.ch, nachdem sie die Mietzinsrichtlinien und deren Handhabung in 552 Gemeinden der Kantone Zürich, Aargau, Solothurn, Basel-Stadt und Basel-Landschaft untersucht haben. Dafür haben sie die geltenden Mietzinslimiten für Einpersonenhaushalte und für eine vierköpfige Familie mit den mittleren Mietzinsniveaus der jeweiligen Gemeinde verglichen. (www.mietlimite.ch)
Die Untersuchung zeigt, dass es für Sozialhilfebeziehende deutlich einfacher ist, in Solothurn oder Basel-Landschaft eine Wohnung zu finden, die innerhalb der Mietzinsrichtlinien liegt, als in Aargau oder Zürich: «Im Aargau liegt die Limite für einen Vierpersonenhaushalt im Schnitt 152 Franken unter der durchschnittlichen Marktmiete für eine 3- bis 3.5-Zimmer-Wohnung. In Zürich sind es sogar 226 Franken. Zum Vergleich: Im Kanton Solothurn liegt die Limite für einen Vierpersonenhaushalt im Schnitt 18 Franken über der durchschnittlichen Marktmiete für eine 3- bis 3.5-Zimmer-Wohnung. Im Kanton Basel-Landschaft sind es 40 Franken.» Die Städte Zürich und Winterthur haben ihre Mietzinslimiten zwischenzeitlich per 1. Juli 2024 deutlich angehoben.
Grosse Unterschiede auch bei kantonalen Sozialdiensten
Die Journalist:innen von Reflekt und Öffentlichkeitsgesetz.ch deckten weitere grosse Unterschiede auf: Während der Kanton Basel-Landschaft jährlich die Mietzinsrichtlinien der Gemeinden überprüft und gegebenenfalls eine Anpassung verlangt, kümmert sich der Kanton Aargau kaum um die Mietobergrenzen, die die Aargauer Gemeinden vorgeben. Solothurn geht noch weiter als der Kanton Basel-Landschaft: «Hier haben die kantonale Sozialkonferenz und das Amt für Gesellschaft und Soziales gemeinsam Empfehlungen erarbeitet, wie die Gemeinden ihre Mietzinslimiten künftig berechnen sollen. Die wichtigsten Punkte: Nettomieten ohne Beschränkung der Nebenkosten, Überprüfung mindestens alle vier Jahre und Nutzung professionell erhobener Daten zur Analyse des Wohnungsmarktes,» schreibt Reflekt (www.mietlimite.ch)
«Wohnen am Limit» bestätigt HarmSoz
Ganz neu ist die Erkenntnis, dass es beim Wohnen mit Sozialhilfe enorme Unterschiede von Kanton zu Kanton und von Gemeinde zu Gemeinde gibt, nicht: Schon Christophe Roulin und Benedikt Hassler von der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW (HarmSoz-Studie) haben in ihrer Studie HarmSoz den Flickenteppich in der Sozialhilfe nachgewiesen. Ihre Studie hat für die Recherche von Oeffentlichkeitsgesetz.ch und Reflekt wesentliche Impulse gesetzt. Auch die Rechtsberater:innen der UFS erfahren in ihrer Beratungstätigkeit regelmässig, wie willkürlich oft Mietzinsobergrenzen festgelegt werden und wie stark es einer Lotterie gleicht, ob Sozialhilfebeziehende in ihrer Gemeinde auf angemessene, faire Bedingungen stossen oder auf solche, die darauf angelegt sind, sie aus der Gemeinde zu vertreiben. Noch nie aber wurden die grossen Differenzen anhand von so vielen Gemeinden nachgewiesen.
Fokus auf die Regionen
Entsprechend gross ist das Medienecho. Wir haben die verschiedenen Medienberichte gelesen: Die Zeitungen der AZ Medien im Kanton Aargau legen den Finger auf die unterschiedlichen und teilweise äusserst fragwürdigen Strategien der Kommunen. Sie haben unter anderem Annik Grand, Leiterin der Kirchlichen Regionalen Sozialdienste KRSD der Caritas Aargau, und Sarah Lohr, Leiterin des KRSD in Aarau befragt. Die beiden Fachfrauen stellen den einen Gemeinden ein durchaus gutes Zeugnis aus, halten aber auch fest, dass es andere gebe, die ihre Sozialhilfebeziehenden gern loswerden wollen: «Die Gemeinden schieben sich durch dieses System die Sozialhilfebeziehenden hin und her.»
Sehr ausführlich berichtet auch die Solothurner Zeitung. Die Zeitung hinterfragt die kommunale Zuständigkeit für die Festlegung der Mietobergrenzen und stellt fest: «Das Resultat: wenig Transparenz, wie die Limiten zu Stande kommen, wenig Anhaltspunkte, ob sie gerechtfertigt sind, und vor allem ein veritables Chrüsimüsi an Mietzinslimiten im Kanton.» Mit Genugtuung nimmt sie zur Kenntnis, dass im Kanton Solothurn Bestrebungen im Gang sind, die Festlegung von Mietzinslimiten zu harmoniseren.
Die BZ Basel hat unter anderem mit Ismail Mahmoud gesprochen, der für die Caritas beider Basel eine mit der UFS vergleichbare kostenlose Rechtsberatung für die beiden Basel anbietet. Mahmoud stellt mit Freude fest, dass die Mietzinslimiten in den beiden Basel in fast allen Gemeinden angehoben werden: «Das ist schön zu sehen. In der Praxis habe ich trotzdem das Gefühl, dass die Mietzinslimiten immer ein wenig dem Trend auf dem Markt hinterherhinken.»
Der Landbote wertet für die Region Winterthur die Resultate für die verschiedenen Gemeinden aus und hält fest: «Brütten gehört zu den knausrigsten Gemeinden. (...) Die Kombination aus teuren Mieten und tiefen Limiten führt dazu, dass Brütten zusammen mit Thalheim an der Thur auf dem Papier die unattraktivste Gemeinde für Sozialhilfebezüger in der Region ist.»
Fehlt noch der Blick auf den übrigen Kanton Zürich und natürlich insbesondere auf die Stadt Zürich. Deutlich macht der Tages-Anzeiger, dass die jeweiligen Limiten mit dem realen Wohnungsmarkt in Verbindung gesetzt werden müssen: «Der vermeintliche Vorteil von nominell höheren Mietzinslimiten wird von den Realitäten des Wohnungsmarktes weggefressen. Die Stadt Zürich wird vom Spitzenreiter fast zum Schlusslicht, Küsnacht rangiert im Mittelfeld.» Das Zitiat bezieht sich auf die Mietzinslimiten der Stadt Zürich vor der Erhöhung per 1. Juli 2024.